Tränen und Verrat

"Valerie", sagt er und legt mir die Hände auf die Schultern. Ich starre weiterhin aus dem Fenster und ignoriere seine sanfte Stimme. "Vallie", versucht er es mit meinem ungeliebten Spitznamen erneut. Dass ich mich auch dieses Mal nicht rühre, wundert mich selbst ein bisschen. Stattdessen beobachte ich meine Nachbarin, wie sie ihren Spiegel putzt. Sie ist besessen davon, so sehr schrubbt sie ihn. Auf und ab, auf und ab, gehen ihre schnellen Bewegungen. In dem selben Rhythmus bewegen sich seine Finger über meinen Rücken. "Valerie", wiederholt er nach einigen schweigsamen Minuten mit mehr Nachdruck und verstärkt seinen Griff um meine Arme. Und wie sollte es auch anders sein, gebe ich nach und drehe mich zu ihm um. "Es tut mir Leid", höre ich ihn sagen und sehe eine Liebe in seinen Augen, die an unsere Anfangszeit erinnert. "Ich wollte das nicht sagen, das weißt du, wir wollten nicht mehr darüber reden. Es war ein Witz, wirklich", spricht er weiter, als ich nicht reagiere. Aber ich weiß zu gut, worüber wir da nicht mehr sprechen wollten. Ich werde diese Situation wohl nie in meinem Leben vergessen. Nie werde ich seine Worte vergessen. "Wie kann man den liebsten Menschen nur soetwas antun, hm? Ich versteh dich nicht. Aber wehe, Valerie, wehe ...". Ich werde seine Sätze wohl noch monatelang detailgetreu wiedergeben können. Und vor allem werde ich nie das eiskalte, lodernde Feuer in seinen Augen vergessen. Und das Gefühl, im Stich gelassen zu werden, das werde ich erst Recht nicht vergessen. "Liebes?", reißt er mich aus meinen Gedanken, da ich noch immer kein Wort gesagt habe. "Schon okay", krächze ich und versuche mich an einem Lächeln, das eher einer Grimasse gleich kommt. Sanft vergräbt er sein Gesicht in meinen Haaren und dass diese Geste vor einiger Zeit noch unvorstellbar war, treibt mir Tränen der Schuld in die Augen. Aber ich atme sie weg, denn ich werde nie den Hass in seinen Augen vergessen. Werde das Gefühl verraten worden zu sein, nie vergessen.